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Literarischer Schriftsteller 

Ich versuche mich in Prosa und Lyrik. Hier einige Kostproben meiner unveröffentlichten Texte:


Der Geschichtenschreiber 

Ich schreibe Geschichten, allesamt erinnert, allesamt erfunden. Eigentlich würde ich sie gerne erzählen, aber niemand will sie hören. Es interessiert nicht, was ich zu sagen habe über einsame Inseln, Hütten auf Lichtungen mitten im Wald, Zweizimmerwohnungen im Hochhausblock. Auch das Rotkehlchen, das von Ast zu Ast fliegt, immer kurz die Flügel schlägt, dann einen Moment gleitet, dann landet, ist für niemand von Belang. 

Also schreibe ich meine Geschichten auf, dann stehen sie wenigstens auf dem Papier und ich kann davon träumen, dass irgendwann einmal jemand die Blätter findet, meine Geschichten liest und ergriffen ist vom Schicksal des alten Mannes, der Kakteen beim Wachsen zusieht und glücklich ist beim Anblick jedes neuen zunächst winzigen, weichen Ansatzes eines Stachels und der begeistert zusieht, wie er allmählich wächst und spitzer wird, bis er irgendwann wehrhaft dazu beiträgt, dass keine Menschenhand sich trauen darf, die Pflanze anzufassen.

Gerade jetzt verfasse ich eine Erzählung von Frederike, der Hausfrau, die wäscht und putzt, und ich bin mir bewusst, dass es keine spannende, keine erheiternde Geschichte wird, sondern alles getaucht ist in ein alltägliches Grau, erhellend für niemand. Ich aber liebe Frederike und kämpfe mit ihr gegen alle Reklametafeln, Gottesbeschwörungen und besserwisserischen Ratschläge zur Befreiung. Ich hoffe auf ihr Glück, bange um sie, und da ich ja ihre Geschichte erfinde, habe ich es in der Hand, ob sie ihr Glück finden wird. Noch weiß ich es nicht, noch sind Frederike und ich gemeinsam auf dem Weg, noch ist der Schluss nicht geschrieben. 

Vielleicht trifft sie einmal den Kakteenliebhaber und sie verlässt ihren Haushalt und er seine Kakteen und es beginnt für beide etwas ganz Neues, auf einer einsamen Insel oder in einer Hütte mitten im Wald oder in einer Hochhauswohnung. 

Vielleicht erblickt sie aber auch beim Einkaufengehen im Gesträuch neben dem Gehweg ein Rotkehlchen, und da das kleine Vögelchen von Strauch zu Strauch fliegt, ist es ihr, als würde es sie begleiten, ihr vorausfliegen, ihr einen Weg weisen. Und sie würde statt zum Supermarkt ganz woanders hingehen, vor Augen immer das kleine Rotkehlchen, das sie begleitet und führt. 

Vielleicht wird sie auch kein Rotkehlchen neben dem Trottoir sehen und auf dem kürzesten Weg zum Supermarkt gehen, am Parkplatz einen Einkaufswagen von den anderen dort abgestellten lösen und mit ihm den Markt betreten und in der Gemüseabteilung von einem Mann angesprochen werden, der ganz ohne Zusammenhang zu ihr sagt, er würde gerne Geschichten erzählen, die niemand interessieren, weshalb er sie aufschreibe, und sie würde antworten, gerne würde sie seine Geschichten hören. 


Dez. 2015 AW



Der Kunde

Ich arbeite in einem kleinen Computerladen in der Provinz. Dort werden Notebooks, Tabletts, Drucker zu konkurrenzunverträglich hohen Preisen angeboten. Es kaufen nur Leute hier, die darauf angewiesen sind, gute Serviceleistungen mitgeliefert zu bekommen. Dafür bin ich zuständig, mein Chef macht die Buchhaltung und den Verkauf, ich sitze in einem winzigen Räumchen hinter dem Verkaufsraum, das gerademal für ein großes stählernes Regal sowie eine Arbeitsfläche Platz bietet und lediglich ein winziges Fenster in Deckennähe besitzt, durch das nur so wenig Licht fällt, dass ständig die grelle Neonröhre über dem Arbeitsplatz angeschaltet sein muss.

Ich richte die gekauften Computer nach den Wünschen der Kunden ein, installiere Software, baue selten auch mal Hardware in die Geräte, wie zusätzliche Festplatten oder größere Arbeitsspeicher. Zuständig bin ich auch für das, was die Kunden Reparaturen nennen, obwohl es lediglich oft nur um sehr banale Softwareprobleme geht.

So kam mir kürzlich ein bereits etwas veraltetes Notebook unter, das mit der Bemerkung abgegeben wurde, dass irgendetwas im Zusammenhang mit Online-Buchungen nicht mehr funktioniere, wozu der Kunde vertrauensselig seine Passwörter angefügt hatte.

Sehr rasch erkannte ich, dass die Probleme einfach dadurch verursacht worden waren, dass der Kunde sein Passwort falsch eingegeben hatte. Ab einem gewissen Zeitpunkt hatte er es offenbar nicht mehr exakt erinnert und ein Sonderzeichen verwechselt. Statt des richtigen Ausrufezeichens hatte er ein Fragezeichen eingesetzt.

Als ob dieses Fragezeichen eine unheimliche Wirkung entfaltete, gab mir die Buchungsliste, die ich einsehen konnte, Rätsel auf: Der Kunde hatte in kurzen Abständen immer nur bei der Deutschen Bahn Reservierungen vorgenommen. Konkret hatte er ICE-Fahrten zu ganz verschiedenen Zielen gebucht, allesamt aber in ihrer Dauer ähnlich, nämlich zwischen vier und fünf Stunden lang. Und immer lagen Hin- und Rückfahrt am selben Tag mit einem auffällig kurzen Aufenthalt am Ziel, nämlich nur zwischen dreißig und sechzig Minuten.

Was sollte das? War er jemand, der Züge oder Zugpersonal testete? Nein, das war auszuschließen, da würde er die Züge öfters wechseln, vielleicht alle fünfzig oder hundert Kilometer, würde mindestens acht bis zehn Züge pro Tag überprüfen. Und er würde nicht privat buchen müssen. - Mich begann die Sache zu interessieren, und da gerade nicht viel zu tun war, schaute ich nach, ob ich im Netz etwas über diesen Mann herausfinden konnte. Nachdem diese Recherche zu nichts führte, schaute ich mir wenigstens bei google-maps an, wo er wohnte: Es war ein Mehrfamilienhaus am Ortsrand des Nachbardorfs, offenbar wohnte er in einer unspektakulären Mietswohnung, komfortabel und einigermaßen ruhig. Kurz blitzte in meinem Kopf der Gedanke auf, ob ich nicht einfach hinfahren sollte, klingeln und unumwunden fragen solle, was es mit seinen Reisen auf sich habe. Selbstverständlich verwarf ich diese Idee sofort wieder und wählte den unauffälligen Weg, ihn wenigstens einmal optisch kennenzulernen, indem ich ihn benachrichtigte, dass er kommen könne, sein Gerät sei fertig zur Abholung. Er antwortet hochdeutsch, mit einem wenig auffälligen Sprachfehler bei der S-Laut-Sprechung, dann käme er sofort vorbei. Ich stellte das Gerät nach vorne in das dafür vorgesehene Regal im Verkaufsraum, sagte meinem Chef Bescheid, und verzog mich wieder in meine kleine Werkstatt. Keine halbe Stunde später betrat er den Laden, ich schaute durch meine offene Tür nach vorne und sah einen mittelgroßen, unauffälligen Mann um die Sechzig, mit erkennbarem Bauchansatz, gekleidet mit einer blauen Jeanshose und einem etwas altmodischen Oberhemd, darüber einen Anorak. Seine Haare waren grau, nicht gerade kurz geschnitten und offenbar vom Wind draußen zerzaust. Er hatte einen relativ kurzgeschorenen, ansonsten faconlosen Bart und setzte eine schmale Lesebrille auf die Nase, als er bei der Bezahlung etwas hektisch Münzgeld in seinem Portemonnaie heraussuchte.

Gut, sein Äußeres hatte mich nicht viel weiter gebracht. Ich beschloss, weil mich meine Neugier nicht losließ, einfach für seine letzte gescheiterte Fahrtbuchung für mich selbst ebenfalls zu buchen, davon ausgehend, dass er nun vermutlich seine Buchung nachholen würde und ich ihn dann auf der Fahrt ja beobachten könne. Ich kam mir vor wie ein Privatdetektiv, als ich vier Tage später auf dem Bahnsteig stand und darauf wartete, dass er käme. Tatsächlich erschien er, fast genauso gekleidet wie bei der Abholung seines Notebooks, nur dass er diesmal eine dünne Aktentasche aus abgewetztem dunklen Leder bei sich hatte, die offenbar, so wie er sie beim Hin- und Hergehen mit der Hand schlenkerte, nicht sehr schwer sein konnte. Als der Zug mit mäßiger Verspätung einfuhr, platzierte ich mich in seiner Nähe, stieg direkt hinter ihm ein und hatte, als er sich setzte, das Glück neben ihm den Platz unreserviert und frei vorzufinden, so dass ich mich neben ihn setzen konnte. Es schien ihn nicht zu befremden, dass in der Nähe noch ganze Platzpaare frei waren, vielleicht dachte er, sie seien reserviert, oder vielleicht war er auch vollkommen auf sich konzentriert. Kaum waren wir losgefahren, entnahm er seiner Tasche einen Schreibblock, setzte die Lesebrille, die ich ja schon gesehen hatte, auf, zog einen Kuli aus der Hemdentasche, in der er, wie ich später bemerken konnte, auch sein ausgedrucktes Online-Ticket und seine Bahncard stecken hatte. Er schlug den Block auf, legte ihn auf den heruntergeklappten Tisch vor sich, aber er begann weder zu zeichnen oder zu schreiben, sondern blickte aus dem Fenster hinaus. Ich wartete, tat so, als sei ich müde, schloss ab und zu die Augen. Einmal spürte ich eine Bewegung neben mir, und als ich die Augen deshalb wieder öffnete, sah ich ihn schreiben, rasch und ein wenig krakelig, für mich, der ich vorsichtig hinüber schielte, nicht leserlich. Er schrieb mehrere Seiten voll, mindestens eine halbe Stunde schrieb er. Dann: Pause. Er blickte wieder aus dem Fenster. Dann war er es, der die Augen schloss, und bald darauf begann er zu schnarchen. Plötzlich schreckte er mit einem lauten Seufzer auf, wandte sich sofort zum Fenster, so als ob er sich schämen würde. Und nach einer Weile wieder ein Schreibanfall - ja, ein bisschen kam es mir wie ein Anfall vor, wie er da loslegte - wieder schrieb er rasch, diesmal aber nur höchstens zehn Minuten. Und nun schien mir der richtige Augenblick gekommen: ich entschuldigte mich für meine Neugier und sagte, mich interessiere aber sehr, was er da schreibe, denn es sei doch heutzutage etwas sehr Besonderes, wenn jemand im Zug nicht in seinen Laptop tippe oder einen Film auf dem Monitor anschaue oder ähnliches, sondern noch mit der Hand auf Papier schreibe, und zwar mehr als nur eine kurze Notiz. Er wandte sich zu mir, sah mich an - ich befürchtete schon, er werde mich trotz meiner Vorsicht im Laden erkennen - und antwortete, er schreibe Geschichten. Obwohl diese Erklärung glaubhaft war, befriedigte sie mich nicht, ließ sie doch offen, was ich wissen wollte, nämlich nicht nur, was er jetzt gerade mache, sondern was es mit den vielen Hin- und Herfahrten auf sich hatte. "Ach, das ist aber interessant", sagte ich und fügte hinzu: "Dann sind sie also Schriftsteller." Das könne man vielleicht so sagen, entgegnete er, aber er habe immer ein ungutes Gefühl bei dieser Berufsbezeichnung, die lasse als solche immer an Broterwerb und Geldverdienst denken. Das stehe bei ihm aber gar nicht im Vordergrund, denn er sei bereits Rentner und habe ein passables Auskommen. Ihm sei das Schreiben selbst das Wichtigste, ihm ginge es darum, Worte zu finden für etwas, was es gibt, wofür aber zuvor noch nie die richtigen Worte gefunden worden seien. Als ob er gemerkt hätte, dass diese gewichtige Antwort nicht für eine unverbindliche Zugfahrtplauderei tauge, fragte er mich, was ich denn so mache. Bankangestellter, log ich und kam etwas in Verlegenheit, als er nachfragte, was er sich denn da konkret darunter vorzustellen habe. Gott sei Dank hatte mir mein Cousin, der in einer Bank arbeitete, von seinem Job erzählt, so dass ich nun ausmalen konnte, dass ich in der Immobilienabteilung tätig sei und Wohnungen bzw. Häuser vermittle. Er ließ sich das noch genauer erzählen, fragte interessiert und neugierig nach: Welche Kunden denn da kämen, wie ich damit zurechtkomme, immer das Beste für die Sparkasse herausholen zu müssen, ob das denn nicht bedeute, die Kunden hinters Licht zu führen. Erst nach einer halben Stunde gelang es mir, das Gespräch wieder auf ihn zu lenken und zu fragen, ob er denn oft im Zug schreibe. Das bejahte er freimütig und setzte hinzu, sehr oft. Meistens überarbeite er zu Hause nur, was er auf den Fahrten geschrieben habe. Ich tat ahnungslos und fragte, ob er denn oft verreise, Urlaub oder Kulturtrips mache. Er lachte und erwiderte, ein Schriftsteller sei immer im Dienst, der mache keinen Urlaub. Nein, er fahre mit dem Zug, um zu schreiben, die Ziele seiner Fahrten seien ihm nicht wichtig. Für ihn sei die Bewegung in der Umgebung wichtig, die bringe auch die Gedanken in Schwung, und es sei günstig, dass es im Zug keine Ausweichmöglichkeiten gebe, man könne nicht vor dem Papier fliehen, Züge seien für ihn der Ort, sich ganz auf die Geschichten zu konzentrieren. Als ob ich ihn provozieren wollte, sagte ich , dann müsse ich mich ja entschuldigen, dass ich ihn gestört habe, ihn abhalte vom Schreiben.

Das wies er leutselig zurück: Nein, ich störte ihn überhaupt nicht, Schreiben bedeute ja nicht nur mit dem Stift Wörter und Sätze aufs Papier zu bringen, sondern auch, sich Geschichten auszudenken, Realität und Fantasie zusammenzubringen, und für ihn sei zum Beispiel ich ein Stück Realität, bedeute für ihn Inspiration. Ich möge ihm nicht böse zu sein für diese Funktionalisierung meiner Person, aber es sei so: Die Menschen auf den Bahnhöfen, in den Zügen seien für ihn faszinierende Anstöße, sich zu ihnen Geschichten auszudenken. Vielleicht würde er demnächst eine Geschichte über einen Bankangestellten oder einen Immobilienmakler schreiben. Letztlich habe er neben einem Mann gesessen, der habe einen Laptop vor sich aufgeklappt gehabt, einen Kopfhörer auf den Ohren und auf dem Bildschirm seien Notenblätter zu sehen gewesen, die oberen Zeilen bereits mit Noten zu einer Partitur gefüllt. Ob ich wüsste, dass man heute so komponiere, fragte er mich, ohne eine Antwort zu erwarten, Noten eintippen und gleich hören können, wie das klingt. Manchmal habe er den Mann leise ein paar Töne einer Melodie summen gehört oder sein Arm habe sich in einem Rhythmus leicht auf und ab bewegt, dann habe er wieder getippt. Mit diesem Mann sei er, als er einmal seinen Computer zuklappte und pausierte, ins Gespräch gekommen. Er habe ihm erzählt, wie er nach der Akademie, wo er unter anderem Komposition als Schwerpunkt studiert hatte, lange kein Auskommen fand, sich mit den verschiedensten Jobs über Wasser hielt, Lehraufträge an Schulen, Klavierstunden, aber auch Gelegenheitsarbeiten, die mit Musik nichts zu tun hatten, so dass er nur noch in den Pausen zwischen den Jobs zum Komponieren kam. Als er dann mit einer Frau zusammengezogen war, ein Kind kam und die Notwendigkeit eines sicheren Einkommens entstand, bewarb er sich bei einem japanischen Elektroorgelbauer als Verkäufer. Das mache er jetzt, sei Reisender in Sachen Elektroorgeln und seine Vorliebe fürs Komponieren sei immer mehr zum Hobby verkommen, möglich hauptsächlich auf den Zugfahrten zu den Kunden. Er sehne sich nach der Zeit seines Studiums zurück, als er noch tagelang an seinem Klavier an einer Sonate arbeitete oder an einer Gedichtvertonung. Aber wer wolle heute noch eine Komposition abseits der Populärmusik oder der PR-Musiksoße. Und selbst die werde immer seltener noch von Menschen komponiert, es gebe Computerprogramme, die typische Merkmale von musikalischen Stilrichtungen in Algorithmen umsetzen könnten, so dass mit einigen Klicks eine Fuge á la Händel, eine Symphonie á la Mozart oder einen Song á la Helene Fischer zu   produzieren sei. Er habe es ergreifend gefunden, die Trauer dieses Musikers zu spüren, seine  Wut und seine Sehnsucht angesichts seines Arbeitslebens, das ihm keine Zeit lasse, das zu tun, was er gerne tat. Und auch seine Hilflosigkeit angesichts von technologischen Möglichkeiten, mit denen er konkurrieren müsse. Dies auf einem Markt, auf dem kein Platz mehr für die Ergebnisse seiner Arbeit war. Darüber habe er dann auf seiner nächsten Zugfahrt, als der Platz neben ihm leer geblieben sei, eine Geschichte geschrieben: über einen Komponisten und seine Beziehung zu den Tönen , die er am Klavier erzeuge und zueinander füge. Der Protagonist versuchte das als Mittelpunkt seines Lebens zu bewahren, geriet aber immer mehr ins Abseits und scheiterte schließlich.

Im Kopf habe er schon eine Idee für eine weitere Geschichte, die das auf den Bereich der Texte übertrage. Er habe sich ernsthaft gefragt, ob es solche Programme wie für Musikkomposition auch für die Literatur gebe. Man könne es, so fuhr er fort, wirklich glauben, wenn man die Serienproduktionen mancher Autoren lese oder die Zeitgeistbücher auf den Bestsellerlisten. Vielleicht lasse er diese Idee auch einfach nur einmal am Rande einer ganz anderen Geschichte auftauchen.

Woran er denn heute geschrieben habe, fragte ich ihn, nunmehr ohne jede Scheu, ihn durch meine Neugier zu nerven. Er sah mich an und antwortete, heute habe er über einen jungen Mann geschrieben, der in einem Computerladen arbeitet, dort bei einer Reparatur herausfindet, dass ein Kunde merkwürdig oft und rätselhaft unbegründbar Zugreisen bucht, neugierig wird, dem Mann heimlich einmal auf eine der Fahrten folgt. Weiter sei er noch nicht, die Pointe müsse ihm noch einfallen.


                                                                                             AW, Mai/April 2019


Die Sache mit dem Tod

W. wusste nicht mehr, wann es begonnen hatte. Wahrscheinlich vor Jahren, als die ersten seiner Freundinnen und Freunde verstarben, die einen vollkommen überraschend, die anderen nach einer Leidenszeit meist von Krebserkrankungen. Er besuchte Totenfeiern und Begräbnisse, bei denen er nicht nur der lieben Menschen gedachte und sich an die gemeinsamen Zeiten erinnerte, sondern auch immer spürte, wie er selbst sich seinem Lebensende näherte.

Jedenfalls fiel W. irgendwann auf, wie ihn ein Gefühl von Dankbarkeit überflutete, wenn er durch ein Alpental oder am Meer entlang ging, überwältigt von der Schönheit der Landschaft, wenn er eine Gemäldegalerie besuchte und ihn ein Bild begeisterte oder wenn er einen Dom besichtigte und ergriffen war von dem Gefüge von Säulen, Gewölben und Fenstern. Dankbarkeit, dies noch einmal sehen und erleben zu dürfen, mit der Heftigkeit einer letzten Gelegenheit. Des Abschieds.

Wenn W. an seine Frau, mit der er lebte, und seinen Sohn, der mittlerweile fern und eigenständig war, dachte, dann erfasste ihn die Dankbarkeit noch intensiver, weil  ihm bewusst war, wie sehr diese Menschen sein Glück waren.

Und auch an seine Freundinnen und seine Freunde dachte W. mit Dankbarkeit, aber auch oft mit Wehmut, stellte sich vor, dass sie irgendwann zu seinem eigenen Begräbnis kommen würden, so wie er nun schon öfters auf Begräbnissen von Freundinnen und Freunden gewesen war.

Kleinste Wahrnehmungen, dass sein  Körper nicht mehr wie üblich und unauffällig funktionierte, ein Anflug von Kopfschmerz, ein leichtes Ziehen in der Brust galten W. als Vorzeichen des Sterbens, das  nun beginne. Die unterschiedlich geformten Tabletten, die er auf Anweisung der Ärzte täglich einnahm, verwiesen ihn auf die Unfähigkeit seines Körpers, sich dem Verfall entgegen zu stemmen.

Alle Erinnerungen wurden in seinem Kopf zu Bilanzierungen, zu Endabrechnungen. W. stellte Glücksmomente den Leiderfahrungen gegenüber, und immer endete die Aufrechnung negativ. Resignativ war seine Einsicht, nun nichts mehr daran ändern zu können. Einzig blieb ihm, um das Verständnis zu kämpfen, was da in seinem Leben schiefgelaufen war, um wenigstens die Last von einer diffusen in eine mit Konturen zu verwandeln.

Angesichts seiner Gedanken an einen möglicherweise baldigen Tod kam ihm oft eine Filmszene in den Sinn: Ein alter weiser Indianerhäuptling fordert den jungen Mann, der ihm als sein Schüler nahesteht, auf, mit ihm zusammen auf einen Berg zu gehen. Die beiden erklimmen den Gipfel, der alte Häuptling legt sich am höchsten Punkt auf die Felsen und sagt, nun werde er sterben. Er schließt die Augen. Sein Schüler setzt sich neben ihn und schaut auf den ruhenden Körper, das Gesicht mit der rötlichen Haut und den tief eingegrabenen Falten, das lange weiße Haar und den edlen Federschmuck. Man sieht ihm die Erschütterung an, doch er sagt nichts. Da beginnt es zu regnen. Dicke Tropfen fallen vom Himmel. Sie treffen auf Körper und Gesicht des Häuptlings, auch auf seine geschlossenen Augenlieder. Plötzlich öffnet der alte Mann die Augen, setzt sich auf, sagt: "Sometimes magic works, sometimes not", erhebt sich und geht, auf den jungen Mann gestützt, zu Tal.

Die Filmszene hatte kathartische Wirkung: War zuvor eine Bedrückung in ihm gewesen, so fühlte er sich nach der Erinnerung an den Häuptling leichter. Es war W., als ginge er federnden Schrittes zu Tal, zurück ins Leben, das ihn unten begrüßte, in Empfang nahm und umfing. Seine gedankliche Bewegung hin zu Sterben und Tod war der in den Tag gewichen, und dieser, so stellte er jedes Mal fest, war so trist nicht.

                                                                                                                                                    Dez. 2019, AW



Ich weiß genau, was ich tu sollen 

Nur tu ich das partout nicht wollen 

es macht mir Stress und macht mich grollen, 

wenn jeder sagt, ich solle wollen 


11.3.2017 AW 


Jesus liegt auf einem Frühstücksteller 

geschnitzte Blutwurst ruht sich aus 

und eine Lok ist umgefallen 

Einem Spaten wachsen ein Paar Stiele 

Luftpumpen dehnen sich 

und Schränke spucken rostiges Metall 

Leinwand wendet sich gespannt zur Wand rötlich spiegeln Kupfertische 

und ein Riesenmantel filzt die Wand herab 

2017 AW

Wer immer schreibend sich bemüht, 

der auch zu lesen sehnend glüht 

denn nach dem Vortrag von eig'nen Werken 

ist's vergnüglich zu bemerken 

wenn Menschen klatschend sich erheben 

und so ihrer Achtung Ausdruck geben 

Der Genius dann im Hochgefühl 

verbeugt sich lächelnd, aber kühl. 


12.2018 AW




Weihnachtseinkäufe 

Wenn ich meine Schritte lenke 

einzukaufen die Geschenke 

und die vielen Menschen seh 

denke ich: ojemineh! 

Weshalb zwingt's mich jedes Mal 

voller Stress und voller Qual. 

in dies Konsumes Jammertal 

Unermesslich wär'n Geschenke wert 

machte ich nicht sofort kehrt 

kaufte nichts und ging nach Hause 

ruhte aus von diesem Grause 

brauchte auch nichts zu verschnüren 

könnte wohlig Ruhe spüren. 

Aber leider ist's nicht zu vermeiden 

unter großer Schuld zu leiden 

denn Geschenke muss man geben

möchte man gesellig leben. 


2018 AW 

Du gehst, stolperst

fliegst und landest

hart


Du suchst nach den

Meisen in der Nacht

nach den Meereswellen im Inland


suchst in Worten

blätterst Papier

findest nichts


hältst dich an Baumstämme

Berggipfel

flüchtige Wolken


versuchst die Flucht

die Heimkehr

den Stillstand


bewunderst die Katze

die schläft

alarmbereit


bist die schwarze Krähe

auf dem Holzzaun

im Schnee

AW, Nov. 2019

Divers


Verdammt

Mir fiel es schwer genug

mein Geschlecht zu finden

- suche noch immer -

da kommen die und fächern auf

als gäbe es Geschlechter auf Kaufhausramschtischen

wohlfeil auszuwählen und einzukaufen


Mein Pimmel ohne Bedeutung

Geschlecht ist gefühlt, gemacht, gewählt

Verdammt!

Soll ich, wenn mich eine oder einer oder eines danach fragt, sagen:

Ich bin ein ppmwkViKeaM?

Ein polymorph-pervers-männlich-weiblich-kindlich-Verwirrter-im-Körper-eines-alten-Mannes?



April 2021, AW


Der Künstler will Zustimmung

Der Künstler will Begeisterung

Der Künstler will Würdigung

Der Künstler will Applaus


Der Künstler hasst Kunstkritiker

Der Künstler hasst Kulturwissenschaftler

Der Künstler hasst Laien und Banausen

Der Künstler hasst alle Mäkler


Der Künstler schafft

Der Künstler findet

Der Künstler gestaltet

Der Künstler ist seiner Zeit voraus


Der Künstler ist grandios, souverän, singulär

Sein Publikum verneigt sich

Sein Publikum bewundert

Sein Publikum applaudiert


Der Künstler verneigt sich bescheiden


Jan. 2022, AW

Eine Irritation im Leben des Werner K.

(Juli 2022)


Werner Kohlmann machte es gerne allen Leuten recht und scheute Konflikte. Und doch ereilte ein solcher ihn, und zwar ein heftiger.

Werner Kohlmann arbeitete seit über zwanzig Jahren an einem ehrwürdigen Gymnasium einer kleinen Großstadt. Er unterrichtete Deutsch und Politik/Wirtschaftskunde, hauptsächlich in der Oberstufe. Weil er Konflikten aus dem Weg ging, war er der Schulleitung angenehm und kam mit seinen Schüler*innen gut aus. Als sie im Unterricht Kappen tragen wollten, ertrug er es – anders als viele Kolleg*innen, die aufgeregt dagegen einschritten – kommentarlos. Als sie Unisextoiletten forderten, schwieg er in der Gesamtkonferenz, bereit, sich auch hierauf einzustellen. Als sie forderten, bei Tafelbildern müsse korrekt gegendert werden, tat er es, gewöhnte sich an entsprechende Buchstabenfolgen und an das Sternchen, übte zu Hause die Sprechpause vor dem „in“. Innerlich war er auch bereit, die Klassenlisten mit einer Spalte zu versehen, in der die m/w- Eintragung durch LSBTIQ* ersetzt werden konnte. Aber zunächst beschränkte er sich auf die handschriftliche Ergänzung durch ein „d“, um ggf. seine Offenheit nachweisen zu können. Aber noch hatte sich diesbezüglich noch niemand beschwert, geahndet wurde nur der Gebrauch bestimmter Wörter wie vor allem das N-Wort und spezielle Texte im Literaturunterricht, in denen aktuell den jungen Leuten unakzeptabel erscheinende Formulierungen enthalten waren.

Selbstverständlich kommentierte er die mangelnde Korrektheit historischer Texte und Autoren, wies auf die nach heutigem Verständnis männlich-chauvinistische Charakterzeichnung im Faust hin oder auf die traditionalistischen Figurenzeichnungen in Schillers Balladen, machte klar, dass das, was man unter aufklärerischem Denken im Zusammenhang literarischer Epochen bezeichnete, geradezu skandalös ignorant war im Vergleich mit der aktuellen Sensibilität für Nuancen und Betroffenheiten. Dadurch genoss Kohlmann bei seinen Schüler*innen den Ruf, ein moderner, aufgeschlossener Lehrer zu sein, sozusagen der Vertreter des State oft the Art. Als solcher setzte er sich sogar von deutlich jüngeren Kolleg*innen ab, die meinten, dass Tabuisierungen prinzipiell antiaufklärerisch funktionierten, und die daran festhalten wollten, dass historische Texte originalgetreu zu lesen seien und als Zitat in einem Reflexionskontext kein Wort auszuschließen sei, auch das N-Wort nicht. Kohlmann dagegen hatte keine Probleme, sich neuen Sprachregelungen anzupassen. So kostete es ihn keine Mühe, je nach Stand der jeweils aktuellen Diskursgewohnheiten von Lehr-, Lern- oder Unterrichtszielen zu sprechen und dann von Kompetenzen auf den verschiedenen Standardniveaus. Und bevor es andere Kolleg*innen taten, nannte er seine Gespräche, die er mit seinen Schüler*innen über den Unterricht führte, „Evaluationen“, ersetzte diese mündlichen Verständigungen bald durch immer ausgefeiltere Fragebögen nebst anschaulichen statistischen Auswertungen. Nun sprach er von Unterrichts-„Monitoring“ und beeindruckte damit in mancher Fachkonferenz seine Kolleg*innen.

So war es für ihn auch vollkommen selbstverständlich, das Wort „Neger“ nicht mehr zu verwenden, sobald es in Öffentlichkeit und Medien zum Common Sense wurde, dass alleine die Aussprache der Lautfolge rassistische Haltungen beweise. Er kannte das Wort „Neger“ zwar nur aus den Erzählungen seiner Eltern über ihre Erlebnisse in der unmittelbaren Nachkriegszeit, als die Bezeichnung den dunkelhäutigen Besatzungssoldaten galt und mitnichten rassistisch Unterdrückte meinte, sondern imposante, sozial höhergestellte Männer, deren Freundlichkeit sprichwörtlich war. Ihm machte es dennoch nichts aus, „Neger“ zu denken und N-Wort zu sagen. Namen waren ihm Schall und Rauch, es galt Nerven zu schonen und Konflikte zu vermeiden. Bald begann er sich sogar bezogen auf diese Sprachnorm zu profilieren: Da er in seinem Studium auch das Problem kolonialer Unterdrückung bearbeitet hatte, genoss er es, das Worttabu nicht nur mit seiner Befindlichkeit – der per Identifikation mit den Opfern rassistischer Unterdrückung erlittenen Kränkung beim Hören dieses Wortes – oder durch floskelhafte Verweise auf Rassismus- und Diskriminierungssensibilität zu untermauern, sondern mit detail- und kenntnisreichen Fachreferaten. Manchmal bewirkte er aber auf diese Weise selbst bei Parteigängern des Wort-Sprech-Verbots eine gewisse Gereiztheit.

Er war Mitstreiter, nicht Gegner der fortschrittlichen Schüler*innen, und ab und zu positionierte er sich in diesem Sinne parteilich in Konferenzen, schlug zum Beispiel vor, immer deutlich zu machen, wer sich bei der Behandlung eines Unterrichtsgegenstandes verletzt, gekränkt, irritiert fühlen könnte. Er selbst hatte dafür in seinen Text- und Aufgabenblättern und in seinen Planungsübersichten ein Textfeld formatiert, in dem unter der Überschrift: „Vorsicht! Betroffen, gekränkt, beunruhigt könnten sich fühlen:“ eine Aufzählung zum Ankreuzen gelistet war. Dort fanden sich Angaben für die diversen Religionen, verschiedenen Genderbezeichnungen sowie „sonstige Sensibilitäten“, wie solche angesichts von Tier- oder Pflanzenverletzungen, Krankheiten oder Tod, Sex oder Gewalt. Faust I erhielt viele dieser Warnhinweise unter der Kategorie „sonstige Sensibilitäten“. Zu bedenken war zum Beispiel das Blütenblatt-Abreißen von Gretchen, das im Unterschied zum Sexualakt oder Kindsmord – da war Goethe ja ausgesprochen zurückhaltend gewesen – deutlich ausgeführt und vorgeführt wird. Eine Schülerin hatte einmal angesichts der Szene in der Gründgensaufführung, die er in wohlabgewogenen Ausschnitten gezeigt hatte, geäußert, wie sehr sie in dem Blümchen das Baby gesehen habe, das Gretchen später tötet. Sie habe es wie ein Ausreißen von Armen und Beinen erlebt. Wenn er eine hohe Zahl von Betroffenheiten absehen konnte, bemühte er sich um Kürzungen der Texte – auch die Textfassung des Faust I besprach er in einer gereinigten Fassung, gekürzt um etwa ein Drittel des Textes von Goethe –, lieferte Alternativen, und bei Klausurthemen gab er so viele Möglichkeiten zur Wahl, dass für alle die Chance gegeben war, den jeweils individuell zutreffenden Betroffenheitsbedrohungen zu entgehen.

Dann aber kam der Augenblick, in dem ihn eine persönliche Angewohnheit trotz aller Bemühung um Konfliktvermeidung und Harmonie zum Ziel von Angriffen und Ausgrenzung machte: Seine Vorliebe, ironisch mit Widersprüchen umzugehen und direkten Konfrontationen zu entgehen, beschwor einen Schüler*innen-Protest, der wie ein mächtiger Tsunami ihn persönlich, aber auch seine Schule überrollte: Sie kollidierte mit der Anti-Ironie-Kampagne, als diese mit Parolen wie „Ironie ist Unterdrückung“ oder „Nie, nie, nie – nirgends Ironie!“ oder „No Irony!“ Fahrt aufnommen hatte.

Nicht, dass er nicht selbst schon darüber nachgedacht hätte, dass seine Ironie als Lehrer problematisch sein könnte. Aber nie war es zu ernsthaften Verstimmungen auf Schüler*innenseite gekommen. Ein oder zwei Mal hatte er sich nachträglich entschuldigt, zum Beispiel als ihm einmal in der Auseinandersetzung über die angebliche Unverständlichkeit einer Lektüre Georg Christoph Lichtenberg in den Sinn kam und er ohne lange nachzudenken, aber immerhin unter Angabe des Urhebers sagte, dass, wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstießen und es hohl klinge, es nicht immer am Buch liege. Die darauf folgende Verstimmung war durch entschuldigende Relativierungen auszuräumen gewesen, und meistens lachten oder zumindest schmunzelten seine Schüler*innen oder, wenn sein ironischer Spruch zu platt war, verdrehten einige die Augen. Zudem war er auch offen selbstironisch, zum Beispiel, wenn er sich in Anspielung auf sein schütter werdendes Haar und in Übertreibung seiner Eitelkeit als GLAZ - Größtes Lehrergenie aller Zeiten - bezeichnete, was vor allem dann eine gute Pointe war, wenn er gerade das Gegenteil durch einen offenkundigen Fehler bewiesen hatte. So schätzten die meisten Schüler*innen seine Ironie als Humor, verziehen sie ihm auch im Falle des Misslingens als Marotte eines alten Mannes. Vielleicht war es diese Anerkennung der Schüler*innen, die er meinte wahrzunehmen, dass er sich unwillkürlich mit dem Mittel der Ironie gegen eine bestimmte Art von konflikthafter Spannung wehrte, dass er es sich angewöhnt hatte, sich vollkommen sorglos ironisch zu äußern, um Spannungen zu mildern.

Als er nun aber angesichts der Feststellung nicht gemachter Hausaufgaben die üblichen und zu erwartenden entschuldigenden Begründungen – er wisse schon: Rechner abgestürzt, Drucker kaputt, Papier alle – selbst aufzählte, meldete sich umgehend der Kurssprecher und verwarnte ihn, Ironie bedeute zynische Abwertung des Gegenübers, beleidige sie alle, weshalb er es bitte unterlassen sollte, sich über sie lustig zu machen. Kohlmann war angesichts dieser Zurechtweisung so perplex, dass er erst einmal gar nicht antwortete, aber nach Schluss der Stunde den Schüler ansprach: Ob er das denn wirklich so gemeint habe, wie er es gesagt habe? Als der Kurssprecher dies selbstbewusst bejahte, reagierte Kohlmann den Fehler, mit einer suggestiven Gegenfrage zu reagieren: Ob er da nicht aus einer Mücke einen Elefanten mache. Da brauste der Schüler auf: Exakt das sei seine beschissene Art, Schüler – offenbar war er so entrüstet, dass er das Gendern vergaß – als kleine Deppen darzustellen, die man nicht ernst nehmen könne. Nun war Kohlmann vollkommen überfordert, er merkte, wie in ihm Wut aufstieg: Wie kam der dazu, seine Reaktion als „beschissen“ zu bezeichnen? Wie redete der mit ihm? Meinte der, er könne ihn, der mehr als dreißig Jahre älter war, beschimpfen, wie es selbst unter Schüler*innen – dass Kohlmann hier gedanklich genderte, ist nicht nachzuweisen – nicht der Fall sein sollte? – Und in seiner inneren Bewegtheit, die er umgehend zu bändigen versuchte, machte er erneut einen Fehler und deutete: „Magst du vielleicht deinen Ödipuskomplex woanders spazieren führen?“ sagte er, und wandte sich ab.

Werner Kohlmann war innerlich aufgewühlt. Was war zu tun? Nachdem sein Anflug von Wut vergangen war, wog er verschiedene Möglichkeiten ab, wie er sich in Zukunft verhalten sollte. Sein Ruf stand auf dem Spiel. Würden sich die Schüler*innen – jetzt genderte er wieder gedanklich gefestigt – gegen ihn verbünden, dann würden das viele Kolleg*innen schadenfreudig mit Genugtuung sehen. Der Schulleiter würde unmutig sein, er würde im Aus landen. Und widerspräche ein Konflikt dieser Art nicht seiner ganzen bisherigen Haltung? – Er beschloss, sich beim Kurssprecher zu entschuldigen und in Zukunft sich ironische Bemerkungen zu verbieten. Das nahm er sich fest vor.

Nun gelang ihm weder das eine noch das andere. Weder ergab sich eine Gelegenheit, mit dem Kurssprecher, der ihn nunmehr keines Blickes mehr würdigte, zu reden, noch – und das ließ den Konflikt eskalieren – gelang ihm die Vermeidung von Ironie. In einem seinen inneren Neigungen gegenüber achtlosen Moment, als er eine umfangreichere Lektüreaufgabe stellte und in den Gesichtern der Schüler*innen sah, wie unverschämt sie diese Aufgabe fanden, ergänzte er, für einige gäbe es da doch sicherlich eine Hörversion, mittels der man mit schnellerer Laufgeschwindigkeit sich den Inhalt in Rekordzeit ins Hirn blasen lassen könne und nebenbei sogar noch am Smartphone zocken oder irgendwelchen Unsinn posten könne. Damit brachte er das Fass zum Überlaufen – ein Euphemismus angesichts der oben schon erwähnten Tsunami-Metapher: Die Mehrheit der Schüler*innen seines Kurses stand auf und verließ den Raum. Einige zunächst Unentschlossene folgten ihnen kurz darauf, weil von Kohlmann, der erschrocken und hilflos an der Tafel stand und zur Tür blickte, nichts mehr zu erwarten war. Alle boykottierten seinen Unterricht auch in der Folgestunde am nächsten Vormittag. Stattdessen – wie Kohlmann erfuhr, als er im Sekretariat das Ausbleiben der Kursteilnehmer*innen meldete – hatten sie eine Abordnung gebildet, die sich beim Schulleiter Dr. Freimüller beschwerte. Daraufhin bestellte dieser Werner Kohlmann umgehend in sein Amtszimmer und befragte ihn, was denn da los sei. Nach Kohlmanns Bericht zeigte sich Dr. Freimüller erstaunt: Kohlmann sei doch immer auf der Seite seiner Schüler*innen gewesen – auch ihm ging die Pause und das „innen“ flüssig über die Lippen – und wäre gerade deswegen von einigen Kolleg*innen kritisiert worden. Weshalb füge er sich denn nun plötzlich nicht ihrer Sensibilität und unterlasse ironische Bemerkungen. Kohlmann zeigte sich reuig. Stockend erklärte er, dass er es ja versuche, aber Ironie nun einmal eine alte Angewohnheit von ihm sei, und die könne er nicht einfach so rasch ablegen. Ironie unterlaufe ihm eben immer wieder einmal. Dr. Freimüller gab sich verständnisvoll, machte aber auch klar, dass es der Schule nicht guttäte, würden diese Tabubrüche zu öffentlichen Protesten führen, Medienberichte und Shitstorms provozieren. Er räumte ein, dass es zwar Richtlinien für korrektes Sprechen gebe, aber noch keinen Erlass des KuMis – gemeint war das Kultusministerium – bezüglich eines Verbots von ironischen Formulierungen für Lehrer*innen, weshalb auch er bisher es nicht für erforderlich gehalten hätte, einem solchen Verbot in Form einer schulinternen Regel in der Schulordnung oder als Dienstanweisung Geltung zu verschaffen. Aber es sei doch klar, dass man nicht einen öffentlichen Konflikt anzetteln dürfe, in dem man in ein schlechtes Licht gerückt werde. Und in einem sehr schlechten Licht stünde man ja nun tatsächlich da, wenn man als Schule, an der per Ironie Schüler*innen beleidigt würden, an den Pranger gestellt würde. Da wäre sofort der Elternbeirat alarmiert, die Presse würde skandalisieren, Shitstorms im Netz würden toben, und in Folge sänken die Anmeldezahlen, der Ruf der Schule wäre grundlegend und langfristig beschädigt.

Kohlmann war diese Vorhaltung sehr unangenehm. Er merkte, wie kompliziert die Konfliktlage war: Nicht nur seine Schüler*innen, mit denen er sich doch immer so gut verstanden hatte, ächteten ihn, sondern seine Befürchtung bestätigte sich auch hinsichtlich der Schulleitung: sie – und mit ihr auch das Kollegium – sahen in ihm einen unangenehmen Störenfried. Plötzlich fühlte er sich schuldig und allein. Selbstverständlich würde auch der Personalrat sich gegen ihn stellen, denn mit der Absenkung der Anmeldezahlen wären die Arbeitsplätze an dieser Schule in Gefahr, ganz abgesehen davon, dass es für alle Kolleg*innen Stress bedeuten würde, an einer in Verruf geratenen Schule zu arbeiten und sich dafür quasi entschuldigen zu müssen.

So saß Kohlmann vor dem Schreibtisch des Direktors, blickte zu Boden und wusste nicht weiter. Er schwieg, so dass Dr. Freimüller erneut das Wort ergriff: „Lieber Herr Kohlmann, Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze. Und ich würde Sie auch gerne vor Angriffen schützen. Aber Sie werden einsehen, dass ich das nicht kann. Wenn die Schüler*innen sich beleidigt fühlen, dann muss man ihnen recht geben. Man muss ihr Gefühl ernst nehmen. Das ist gerade für uns Pädagog*innen – hier zögerte er mit dem Päuschen und dem „innen“, weil er ja als Mann zu einem Mann sprach, rang sich dann aber doch zur korrekten Verallgemeinerung durch – eine wichtige Aufgabe. Einfühlung! Empathie! Das sei gefragt, nicht Ignoranz. Arbeiten Sie an sich, Herr Kohlmann. Entschuldigen Sie sich bei den Schüler*innen, zeigen Sie Ihren guten Willen, indem Sie beteuern, dass nicht nur Sie selbst nie wieder ironisch sprechen, sondern auch Satiren oder Texte, in denen Ironie zu finden sein könnte – auf jeden Fall also Gernhard oder Tucholski, aber auch Hoffmann oder Kafka – als Unterrichtsstoff vermeiden werden. Das wird die Schüler*innen beruhigen und den Schulfrieden wieder herstellen.“ Er stand auf und reichte Kohlmann über die glänzende Schreibtischplatte hinweg die Hand als Zeichen, dass er das Gespräch für beendet und die Sache für bereinigt ansah.

Dies aber, so zeigte sich, war nicht der Fall: Nichts war bereinigt. Der Elternbeirat bzw. dessen Vorsitzender, Prof. Dr. Hart, meldete sich bereits keine Stunde nach diesem Gespräch bei Dr. Freimüller mit der Forderung, sofort ein Krisengespräch mit ihm selbst – er nannte sich tatsächlich zuerst –, ihm – nun meinte er Dr. Freimüller –, dem Verursacher Kohlmann – kein „Herr“ davor – und Kurs- sowie Schulsprecherin – nur auf letztere war die Genderbezeichnung korrekt – als Beteiligte nannte. Dr. Freimüller sah keine Chance abzulehnen, wollte er nicht den Eindruck erwecken, er wolle sich vor Kohlmann zu stellen, wodurch er selbst zum Ziel der Angriffe werden würde. Also ließ er seine Sekretärin alle telefonisch kontaktieren, und am späten Nachmittag saßen alle Fünfe in der Runde im kleinen Konferenzzimmer neben dem Schulleiterbüro. Dr. Freimann eröffnete das Gespräch mit der versöhnlichen Einleitung, er gehe davon aus, dass allen an einem harmonischen Schulleben gelegen sei. Ein interner Konflikt sei zu klären, was angesichts des guten Willens aller Beteiligten sicherlich rasch gelingen werde. Schon während seines zweiten Satzes hielt es die Schulsprecherin kaum mehr auf ihrem Stuhl: Die Sprechpause Freimüllers nutzend, fiel sie ihm in die Rede, bäumte sich geradezu auf, beugte den Oberkörper weit über den Tisch und hielt ihm erregt und lautstark vor, was das denn für eine maßlose Unterschätzung des Konflikts sei. Es gehe um nichts weniger als um die Diskriminierung einer sozialen Gruppe durch eine Amtsperson! Ironie sei eine Herrschaftsstrategie, die die anderen diskriminiere, ihnen ihre Würde abspreche, sie nicht ernst nehme, sie geradezu als Menschen vernichte! Das stehe in der Tradition von Jahrhunderten schulischer Unterdrückung, und zudem sei es kein Zufall, dass ein alter weißer Mann hier zum Täter geworden sei. Auch dies entspreche der langen Tradition männlicher Zuchtmeister in den Schulen. Ironie habe den Rohrstock abgelöst, die offene Aggression sei zur Microaggression geworden, unter der sensible Menschen aber genauso litten wie unter offener, physischer Aggression, auch weil sich die Microaggressionen ja summierten, sich die Kränkungen ansammelten, die Entwürdigung wachse und letztlich die Identität zerstört werde.

Alle schauten das Mädchen mit großen Augen an. Das hatte niemand erwartet, auch der Kurssprecher nicht, der mit kurzer Verzögerung zu klatschen anfing. Seinem Beispiel folgte Prof. Dr. Hart, der dann aber verbal nachlegte: Diese fundierte Analyse bedürfe keiner Ergänzung mehr. Die Tatsache sei unbestreitbar: Herr Kohlmann habe sich wiederholt in einer Art benommen, die als skandalös zu bezeichnen sei: empathielos, unsensibel, gewalttätig. Da könne nur eins in Frage kommen: Ein Disziplinarverfahren! Nun war Dr. Freimüller gefragt. Alle schauten auf ihn, der nun krampfhaft überlegte, wie hier harmonisierend zu agieren sei, damit das Ganze nicht an die Öffentlichkeit gerate. Es musste gelingen, hier intern zu einer Lösung zu kommen, die jegliche Störung des Images der Schule und ihres Leiters ausschloss. Der Forderung von Hart einfach nachgeben und Kohlmann opfern – das war naheliegend, aber dann wurde Freimüller klar, dass für ein Disziplinarverfahren ja gar kein Grund vorlag: Ironie war nicht verboten, es gab weit und breit kein dienstliches Vergehen, das die Juristen des Schulamts bzw. das Kultusministerium bewerten könnten. Aber wie sollte er das hier in der Runde verdeutlichen, ohne dass er sofort dem Täter-Sympathisanten-Lager zugeschrieben würde?

Da auch Kohlmann schwieg – was hätte er auch sagen sollen? – trat Stille ein. Alle schauten noch immer auf Freimüller. Der wiederum schaute auf den Konferenztisch, als lese er konzentriert ein dort liegendes Schriftstück. Dann hob er den Kopf, blickte Hart an und sagte mit dem Brustton des Bedauerns: Für eine Dienstaufsichtsbeschwerde liege leider – er sagte tatsächlich: „leider“! – kein entsprechender Tatbestand vor. Prof. Dr. Hart realisierte sogleich, dass er da etwas populistisch über ein vernünftiges und realisierbares Ziel hinausgeschossen war, und fand nicht sofort zu einer sinnvollen Antwort. Da bescherte ihm der Kurssprecher die Möglichkeit, darüber nachzudenken, wie man zurückrudern könnte, ohne das Gesicht zu verlieren. Der Schüler, in ähnlich aufgebrachtem Ton wie seine Mitschülerin, warf dem Direktor mangelnde Zivilcourage vor, unterstellte ihm Feigheit und Parteilichkeit: Das sei nur eine Ausrede, die kaschiere, dass auch er eine patriarchalisch-herrschaftsorientierte Position vertrete. Zweifellos wolle er lediglich Kohlmann schützen! Das kenne man ja von Institutionen, die machten sofort dicht, wenn man Kritik übe. Jetzt hatte Hart seine Strategie gefunden und konnte anschließen: Es sei deutlich, dass hier keine Verständigung möglich sei, sagte er, die Gräben seien zu tief, das Vertrauensverhältnis gründlich zerrüttet, jegliche gemeinsame Basis fehle, der Dissens sei unüberbrückbar. Es bliebe also für sie – hier schloss er sich mit Kurssprecher und Schulsprecherin zu einer Union zusammen - nur noch die Möglichkeit, sich an die Öffentlichkeit zu wenden, die Presse einzuschalten als 4. Gewalt der Demokratie, damit die 1. Gewalt, das Volk, aktiv werden könne.

Wie durch einen Nebel hindurch nahm Kohlmann noch wahr, dass das nicht stimmte, denn die 1. Gewalt war die Legislative, die zwar vom Volk gewählt werde, nicht aber identisch mit ihr sei. Aber kaum hatte er das gedacht, bemerkte er, dass alle schon im Aufbruch waren: Hart und die beiden Schülervertretenden – in diesem Moment also substantiviertes Partizip – verließen mit theatralisch erhobenen Häuptern, weder Freimüller noch Kohlmann eines weiteren Blickes würdigend, den Raum. Freimann war aufgestanden, reglos stand er am Tisch, rückte langsam mit seinen Kniekehlen den Stuhl zurück und wandte sich seinem Büro zu. Vor der Verbindungstüre drehte er sich noch einmal zu Kohlmann um und sagte resigniert: „Sehen Sie, was sie angerichtet haben?“

Was hatte Kohlmann angerichtet? Oder wie es seiner inneren Lage besser entsprach: Wie war er zugerichtet? Wie auch immer es mit dem an- oder zu- auch sein mochte, am nächsten Tag wurde deutlich, was an- und zugerichtet war: Statt zum Unterricht zu gehen, waren die SV-Vertreterin und der Kurssprecher nebst Elternvertreter Dr. Hart und seiner Stellvertreterin beim Schulamt vorstellig geworden und hatten ihre Beschwerden zu Protokoll gegeben, verbunden mit dem Appell, das Amt müsse umgehend eingreifen. In den Sozialen Netzwerken gab es Posts mit tausenden Likes, in den Zeitungsredaktionen der näheren Umgebung waren Lokalredakteur*innen mit der Vorbereitung von Artikeln und Kommentaren beschäftigt. Übertragungswagen von Fernsehsendern fuhren in Richtung von Dr. Freimüllers Schule. Das Telefon im Sekretariat war so überlastet, dass die Sekretärin beschloss, gar kein Gespräch mehr anzunehmen, das Schulamt hatte per FAX Freimüller einbestellt. Und als Kohlmann nach seinem Unterricht das Schulgebäude verließ, warteten fünf Reporter auf ihn und baten ihn hektisch konkurrierend um eine Stellungnahme. Er ging zu Boden schauend an ihnen vorbei, stieg in sein Auto und fuhr geistesabwesend nach Hause. Dort parkte er vor der Garage, ging zum Eingang des Reihenhauses, in dem er mit seiner Frau – seine Töchter waren längst ausgezogen – wohnte. Hinter sich verschloss er die Haustür, als herrsche draußen ein tödlicher Sturm. Er ging in sein Arbeitszimmer im Souterrain, setzte sich in seinen Lesesessel und blickte zum Fenster, ohne wirklich wahrzunehmen, was er sah. Er fühlte sein Leben in Trümmern. Nach einer Weile änderte sich seine Stimmung kaum merklich. Irgendwann stand er auf, holte sein Schreibheft vom Regal, nahm seinen Kugelschreiber und begann eine Satire zu schreiben.

Einem Redner ist es anzuraten
Statt nur Prosaisches dahinzusagen
Was Gereimtes sich zu wagen

Zu des Publikums Behagen
Ob witzig, ob getragen
Hebt es alle Stimmungslagen

So gilt’s Gereimtes flüssig vorzutragen
Denn Gedichte sind’s, die aus der Rede ragen

Es sei denn, die Verse sind misslungen
Man merkt, sie sind mühsam nur errungen
und Reime sind allzu sehr erzwungen

Dann wär‘ es besser, ganz zu schweigen
Und zu verzichten auf der Verse Reigen

Okt. 22, AW

Pensionärsstammtisch

Eine gemütliche Runde vorwiegend alter Herren in der „Bockshaut“, dem Traditionslokal der Stadt. Sechs ehemalige Gymnasiallehrer sitzen unter der Schmiedeeisenlampe am runden Tisch bei Wein oder Bier. Selbstverständlich geht es um Krankheiten, Urlaube, Familien, selbstverständlich um die Schule, in der sie mehrere Jahrzehnte ihres Lebens gearbeitet hatten. Wie immer erinnert man sich an Kolleginnen und Kollegen, die ehemaligen Schulleiter, einzelne auffällige Schüler. Das generische Maskulinum dominiert, und alte Zeiten werden wieder lebendig. Alles ist wie immer bei ihren Treffen, man redet, man lacht. Zwar sind sie alt geworden, die Krankheiten zeigen das ebenso wie die Altersangaben in den Berichten von Kindern und Enkeln, aber in den Erzählungen sind alle jung geblieben, und zugleich sind sie abgeklärt und erzählen jovial Anekdoten aus dem früheren Schulalltag, bei denen sie über sich selbst lachen. Der Austausch über das, was der eine oder andere über die Gegenwart ihrer Schule gehört hat, fällt zumeist kritisch aus: Was der neue Schulleiter da wieder hat verlautbaren lassen, von welchen Rückschritten ein Kollege, der noch im Dienst ist, berichtet hat, der missglückte Tag der offenen Tür, den einer aus dem Kreis besucht hat – all das zeigt, dass es heute nicht mehr so gut ist, wie es einmal war. Auch Zeitungsartikel, die über die aktuelle Bildungspolitik Auskunft geben, werden besprochen und fachmännisch beurteilt.

Man bestellt eine neue Runde Getränke, man ist sich einig, selbst wenn da und dort unterschiedliche Meinungen einmal zu kurzen Debatten führen. Da meldet sich Dr. Regen zu Wort, und zwar mit einer umständlichen Einleitung. Er sei sich unsicher, ob er es mal sagen solle. Es sei irgendwie schwierig und vielleicht auch nicht am Platze. Aber es beschäftige ihn seit einiger Zeit. Die anderen blicken ihn, der sonst immer eher zuhört als selber erzählt, etwas erstaunt an. Er seinerseits schaut in die Runde, dann auf sein Glas. Da niemand etwas sagt, beginnt er in die Pause hinein:

„Ich habe mittlerweile das Gefühl, über dreißig Jahre lang Tag für Tag Mist gebaut zu haben. Ich habe Kinder und Jugendliche in ihre Schülerrolle gepresst und es genossen, die machtvolle Rolle des Lehrers spielen zu können. Ich bin vor Klassen aufgetreten wie vor Publikum, und dieses Publikum war gezwungen mir zu huldigen. Diesen Zwang habe ich skrupellos ausgeübt durch meine Noten und meine Beurteilungen. Die Schüler waren mir ausgeliefert, auch wenn sie alle möglichen Versuche gestartet haben, sich subversiv weg zu ducken, kleine Revolten anzettelten, versuchten mir meine Macht streitig zu machen. Die meisten haben sich mir freiwillig unterworfen, weil sie die Rollenverteilung akzeptierten und davon profitierten, ihr Bestes zu geben. Und ich habe mir über Jahre hinweg vorgemacht, das sei alles gut so, ich sei gut so, als Lehrer und Pädagoge. Niemand hat mir gespiegelt, dass das Illusion war, weder die Schüler, denen ich ja an Alter und Wissen voraus war, noch die Kollegen oder die Schulleitung, die diese Logik alle bejahten und einander bestätigten, dass es genauso laufen müsse. Es gehörte ja zur Schule, dass ich immer mit Unterlegenen arbeitete, immer wieder war da eine neue, junge, hilflose Generation mein Gegenüber, und immer blieb da ein Kollegium, das, indem es sich selbst stabilisieren musste, auch mich bestätigte. Selbst die Eltern der Schüler nahm ich dadurch für mich ein, dass ich die Lehrerrolle gut spielte, weil sie diese selbst erfahren hatten und für selbstverständlich hielten. So durchlief ich letztlich blind mein Berufsleben, wie ein Schlafwandler agierte ich in Klassen- und Konferenzräumen, im Unterricht, bei der Pausenaufsicht, auf Elternabenden. Jetzt wache ich auf wie aus einem Alptraum und sehe auf mein Berufsleben als ein unheimliches Schauspiel, in dem ich eine fatale Heldenrolle spiele, eine tragische. Das treibt mich um, und ich wollte es einmal ausdrücken.“

Die anderen blickten betreten zu Dr. Regen hin oder hinunter auf ihr Glas, regungslos. Als sie sich wieder zu bewegen begannen, einen Schluck aus ihrem Glas nahmen, aber noch immer keiner etwas sagte, stand Regen auf, ebenfalls wortlos, ging zur Theke, zahlte und verließ das Lokal.

Dez. 2022, AW

Schriftsteller: Über mich
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